Der Einfluss des Wohnorts: Wie die Umgebung unsere Persönlichkeit formt

Unser Wohnort ist mehr als nur eine Adresse, er prägt uns auf vielfältige Weise und formt unsere Mentalität sowie unsere Persönlichkeit. Die Unterschiede zwischen dem Leben in der Stadt und auf dem Land sind deutlich spürbar und können tiefgreifende Auswirkungen auf unser Wohlbefinden haben. Aktuelle Studien legen sogar nahe, dass Großstädter häufiger unter neurotischen Persönlichkeitsstörungen leiden. Doch was steckt hinter diesen Unterschieden und wie beeinflusst unser Wohnort tatsächlich unser Leben?

Stadt versus Land: Zwei Welten, zwei Mentalitäten

Stadt und Land sind nicht nur geografische Gegensätze, sondern repräsentieren auch unterschiedliche psychologische Landschaften, verschiedene Lebensstile, Werte und soziale Dynamiken.

Die Psychologie der Stadt: Stimulation und Stress

Städte pulsieren vor Energie und bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten für Arbeit, Unterhaltung und soziale Interaktion. Das städtische Leben ist schnelllebig und vielfältig, aber auch bekannt für seine hohe Stimulation und Vielfalt an Reizen. Die Menschen in der Stadt sind oft einem höheren Maß an Stress ausgesetzt, sei es durch den Arbeitsdruck, den ständigen Lärm oder die überwältigende Anzahl von Möglichkeiten.

Diese ständige Stimulation kann dazu führen, dass Stadtbewohner eine erhöhte Reaktivität auf Stress entwickeln. Die schnelle Lebensweise erfordert oft zügige Entscheidungen und eine hohe Anpassungsfähigkeit. Menschen in der Stadt neigen aus diesem Grund eher dazu impulsiv zu sein und weniger Zeit für Entspannung zu haben.

Die Psychologie des Landes: Verbundenheit und Gelassenheit

Im Gegensatz dazu bieten ländliche Gebiete eine ruhigere und langsamere Lebensweise. Die Natur ist näher und die Gemeinschaft enger verbunden. Dies kann zu einem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit führen.

Die Natur spielt eine wichtige Rolle bei der Förderung von Entspannung und Gelassenheit. Die Weite der Landschaft und die Stille können Stress abbauen und das Wohlbefinden steigern. Menschen auf dem Land neigen dazu geduldiger und weniger impulsiv zu sein. Sie schätzen die langsamere Lebensweise und nehmen sich mehr Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen und persönliche Interessen. Doch auch hier gibt es Herausforderungen, wie etwa begrenzte berufliche Möglichkeiten oder eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten.

Psychische Erkrankungen und ihr Zusammenhang mit dem Wohnort

Tatsächlich ist die Inzidenz seelischer Erkrankungen in Großstädten deutlich höher als auf dem Land. Depressionen und Angststörungen kommen rund 40% häufiger vor, schizophrene Psychosen sogar um 130% mehr bei Frauen und um 190% mehr bei Männern. Wenn Personen auch in der Stadt geboren wurden, ist das Risiko an psychischer Störung zu erkranken sogar nochmal höher. Gerade in der Lebenszeit bis zum jungen Erwachsenenalter scheint die Lebensumgebung sehr ausschlaggebend für die mentale Gesundheit zu sein. Im späteren Leben hingegen nimmt der Einfluss des Wohnortes etwas ab.

Depressionen

Depressionen sind eine häufige psychische Erkrankung, die durch tiefe Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Interessenverlust gekennzeichnet ist. Der hohe Stresspegel und der Arbeitsdruck in der Stadt können das Risiko für Depressionen erhöhen. Die Anonymität und die Schwierigkeiten tiefe soziale Bindungen aufzubauen können ebenfalls dazu beitragen, dass Menschen sich einsam und isoliert fühlen, was Depressionen begünstigt.

Angststörungen

Angststörungen sind eine weitere häufige psychische Erkrankung, die durch übermäßige Sorgen gekennzeichnet ist. Der hektische Lebensstil, die überfüllten Straßen und die ständige Reizüberflutung führen schnell zu einem gesteigerten Gefühl der Angst und Unruhe.

Schizophrenie

Schizophrenie ist eine psychische Erkrankung, die durch Halluzinationen, Wahnvorstellungen sowie gestörtes Denken und Sprechen gekennzeichnet ist. Die Ursachen sind komplex und umfassen genetische, biologische und soziale Faktoren. Einige Forscher spekulieren jedoch, dass die soziale Isolation und die soziale Ungleichheit in der Stadt das Risiko für Schizophrenie erhöhen könnten.

Neue Forschungen belegen: Großstädter sind häufiger von neurotischen Persönlichkeitsstörungen betroffen

Einige aktuelle Forschungen haben zudem gezeigt, dass Menschen in städtischen Gebieten tendenziell höhere Werte von Neurotizismus aufweisen, während Menschen auf dem Land oft als entspannter und ausgeglichener gelten. Neurotizismus ist eine Persönlichkeitsdimension, die mit Anfälligkeit für negative Emotionen wie Angst, Depression und Unruhe verbunden ist.

Was sind neurotische Persönlichkeitsstörungen?

Neurotische Persönlichkeitsstörungen sind psychische Störungen, die durch anhaltende Muster von innerem Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen des Lebens gekennzeichnet sind. Diese Störungen manifestieren sich in verschiedenen Formen von emotionaler Instabilität, Angst, Unruhe und einem gesteigerten Empfinden von Stress. Zu den Symptomen gehören oft übermäßige Sorgen, Ängste, Reizbarkeit, und ein generelles Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst und der Umwelt.

Es gibt verschiedene Arten von neurotischen Persönlichkeitsstörungen, darunter die zwanghafte Persönlichkeitsstörung, die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung und die histrionische Persönlichkeitsstörung. Jede dieser Störungen hat ihre eigenen charakteristischen Merkmale und kann unterschiedliche Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben.

Soziale Stressoren

Lange war unklar, welcher Faktor am Wohnort maßgeblich für ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen verantwortlich ist. Die bestehenden Forschungen legen mehrheitlich nahe, dass soziale Faktoren, wie Isolation, Diskriminierung und sozialer Abstieg bedeutsame Elemente sind. Gerade bei Personen mit einem Migrationshintergrund, die vermehrt in Städten leben, kommen noch weitere Risikofaktoren wie geringes Einkommen und geringer Bildungsgrad hinzu.

Beweise aus der Hirnforschung

Studien aus der Hirnforschung unterstreichen die Bedeutung sozialer Stressoren in Großstädten für die seelische Gesundheit. Die Forschung zeigt, dass Personen, die auch in der Großstadt aufgewachsen sind, stärker auf einen sozialen Stressor mit einer Aktivierung von Hirnregionen reagieren, die bei der Steuerung der Stress-responsiven Systeme bedeutsam sind. Eine Hirnregion, die bei Personen aus der Stadt ebenfalls deutlicher aktiver ist, ist das anteriore Cingulum. Dieses prüft die Verhaltensantwort einer Person auf Angemessenheit und ist bei Fehlern aktiv. Es bestehen ebenfalls Verbindungen zum Hypothalamus und damit der Aktivität des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden (HHN)-Systems, welches eines der bedeutsamsten Stress-responsiven Systeme darstellt. Darüber hinaus konnte auch ein Zusammenhang von frühem leben in der Stadt und dem Volumen der grauen Hirnsubstanz im rechten dorsolateralen präfrontalen Cortex sowie eine stärkere Aktivierung der Amygdala festgestellt werden. Die Amygdala ist dabei dafür zuständig uns vor Gefahren zu warnen. Gerade die genannten Hirnregionen sind Bereich, die bei den Erkrankungen Schizophrenie und Depression beeinträchtigt sind.

Offene FRAGEN DER AKTUELLEN FORSCHUNG

Obwohl es inzwischen einige Studien gibt, die den Zusammenhang von psychischen Erkrankungen und dem Leben in einer größeren Stadt belegen, ist dennoch weitere Forschung notwendig um aus diesen Erkenntnissen präventive und therapeutische Empfehlungen zusammenstellen zu können. Ebenfalls gilt es die vermuteten Auslöser, wie in erster Linie die sozialen Stressoren, noch weiter zu konkretisieren, um Handlungsempfehlungen ableiten zu können. Weiterhin sollten bei zukünftigen Forschungen die Einflüsse von Faktoren, wie der Einwohnerdichte oder die Anzahl an Grün- und Erholungsflächen, mit einbezogen werden. Bei all den Fragestellungen geht es nicht darum das Leben in der Stadt als schlecht zu bewerten, sondern es sollte eher ein Anstoß für die Politik, das Gesundheitswesen und Stadtplaner sein die Städte anders zu gestalten und damit die psychische Gesundheit der Bewohner zu gewährleisten. Zudem sollte sichergestellt werden, dass keine soziale Ausgrenzung gibt und weniger soziale Ungerechtigkeit herrscht.

Quellenangaben
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Vanessa Graßnickel
Chefärztin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Vanessa Graßnickel
Dr. med. Vanessa Graßnickel ist eine anerkannte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach langjähriger Tätigkeit als Oberärztin übernahm sie 2024 die Position als Chefärztin der LIMES Schlossklinik Fürstenhof in Bad Brückenau. Dr. Graßnickel spezialisiert sich auf verhaltenstherapeutisch basierte Behandlungen und Suchtmedizin, fundiert durch ihr Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum und einer umfangreichen fachärztlichen Ausbildung an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Bochum. In ihrer Rolle als Chefärztin verbindet Dr. Graßnickel modernste diagnostische und therapeutische Methoden mit einer empathischen, respektvollen Patientenbetreuung sowie maßgeschneiderten Therapieplänen.

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