Auswirkungen des Phänomens „Lieblingskind“ auf die kindliche Psyche

Die meisten Eltern lieben ihre Kinder bedingungslos und möchten jedem von ihnen gleichermaßen gerecht werden. Doch trotz dieser Absicht zeigen Studien, dass in vielen Familien ein Lieblingskind existiert, auch wenn dies oft unbewusst geschieht. Dieses Phänomen kann weitreichende Auswirkungen auf die Kinder haben, einschließlich der Entwicklung von Depressionen im späteren Leben.

Interessant: Verschiedene Forschungen belegen, dass etwa 70 Prozent der Mütter und Väter ein Lieblingskind haben. Unter den befragten Kindern geben sogar über 80 Prozent an, dass ihre Eltern ein Geschwisterkind bevorzugten.

Warum gibt es Lieblingskinder?

Die Frage nach dem Phänomen der Lieblingskinder wirft Licht auf die komplexen Dynamiken innerhalb von Familienbeziehungen. Dabei gibt es verschiede Faktoren, die dazu führen können, dass sich das Gefühl der Vorliebe für ein bestimmtes Kind verstärkt:

Persönlichkeit: Eltern fühlen sich möglicherweise stärker mit einem Kind verbunden, das ähnliche Charakterzüge besitzt.

Interessen: Wenn ein Kind Interessen oder Hobbys hat, die denen der Eltern ähnlich sind, kann dies zu einer stärkeren Bindung führen.

Ähnlichkeit: Auch Kinder, die ihren Eltern physisch ähnlicher sind, werden manchmal bevorzugt.

Geschwisterdynamik: Die Beziehung zwischen Geschwistern kann ebenfalls eine Rolle spielen, indem Geschwisterkinder sich besser verstehen oder weniger Konflikte haben.

Lebensumstände: Externe Faktoren, wie die Geburt eines Geschwisterkindes, familiäre Stresssituationen oder individuelle Bedürfnisse eines Kindes können darüber hinaus dazu führen, dass Eltern mehr Aufmerksamkeit oder Zuneigung einem Kind gegenüber zeigen.

Die Auswirkungen auf das benachteiligte Geschwisterkind

Die Auswirkungen auf Kinder, wenn Eltern ein Lieblingskind haben, können vielfältig und langfristig sein:

Geringeres Selbstwertgefühl: Kinder, die sich als das benachteiligte Geschwisterkind ansehen, können unter einem geringeren Selbstwertgefühl leiden, da sie das Gefühl haben weniger geliebt oder wertgeschätzt zu werden.

Eifersucht und Rivalität: Das Vorhandensein eines Lieblingskindes kann zu Eifersucht und Rivalität unter den Geschwistern führen, was wiederum Spannungen und Konflikte innerhalb der Familie mit sich bringt.

Depressionen: Benachteiligte Kinder, die sich im Schatten ihrer Geschwister fühlen, haben ein höheres Risiko später im Leben an Depressionen zu leiden. Das Gefühl der Vernachlässigung oder der geringschätzigen Behandlung kann langfristige psychologische Auswirkungen haben.

Verhaltensprobleme: Kinder, die das Gefühl haben, benachteiligt zu sein, zeigen möglicherweise Verhaltensweisen wie Aggression, Rückzug oder Auflehnung gegen Autoritäten.

Langfristige Beziehungsdynamik: Das Lieblingskind-Phänomen kann auf lange Sicht gesehen die Beziehungsdynamik innerhalb der Familie beeinflussen. Geschwister können sich später im Leben distanzieren oder Schwierigkeiten haben positive Beziehungen aufzubauen.

Die Herausforderungen des Lieblingskindes

In den vielschichtigen Gefügen familiärer Strukturen wird oft angenommen, dass ein als Lieblingskind bezeichnetes Kind von den scheinbaren Vorzügen und der vermeintlichen Gunst der Eltern profitiert. Doch hinter dieser Begünstigung verbirgt sich oft eine komplizierte Realität, die auch für das bevorzugte Kind erhebliche psychische Belastungen umfasst:

Druck und Erwartungen: Das Lieblingskind kann unter erhöhtem Druck stehen den Erwartungen der Eltern gerecht zu werden, was schnell zu Stress und Angst führt.

Gefühl der Schuld: Das Lieblingskind kann sich schuldig fühlen wenn es erkennt, dass es bevorzugt wird und seine Geschwister benachteiligt sind.

Isolation: Das Lieblingskind kann sich isoliert fühlen, insbesondere wenn es die Spannungen zwischen sich und den Geschwistern spürt oder das Gefühl hat, dass es die elterliche Liebe und Aufmerksamkeit „stehlen“ würde.

Beziehungsprobleme: Das Lieblingskind hat oft Schwierigkeiten gesunde Beziehungen zu seinen Geschwistern aufzubauen, weil die offensichtliche Vorliebe der Eltern für sie Spannungen und Neid zwischen Geschwistern hervorrufen kann.

Selbstwertgefühl: Ironischerweise kann das Lieblingskind auch unter einem niedrigeren Selbstwertgefühl leiden, da es sich bewusst sein kann, dass seine Geschwister unter der Situation leiden und es sich dafür verantwortlich fühlt.

Was können Eltern tun?

Eltern stehen oft vor der Herausforderung ihre Kinder gleichermaßen zu behandeln und sicherzustellen, dass keines bevorzugt wird. Dies ist nicht nur wichtig für das Wohlbefinden jedes einzelnen Kindes, sondern auch für die Stärkung der Familienbeziehungen insgesamt. Es gibt verschiedene Maßnahmen, die Eltern ergreifen können um sicherzustellen, dass sie keine Vorlieben zeigen und alle ihre Kinder fair behandeln.

Zunächst einmal ist es entscheidend, dass Eltern sich ihrer eigenen Präferenzen bewusst sind. Oft sind Präferenzen unbewusst und können auf persönlichen Eigenschaften, Interessen oder sogar Ähnlichkeiten mit den Kindern beruhen. Folgend können Eltern aktiv an ihnen arbeiten sie nicht in ihren Interaktionen mit den Kindern zum Ausdruck zu bringen.

Eine Möglichkeit, um dies zu erreichen, ist es jedem Kind individuell Aufmerksamkeit zu schenken. Jedes Kind ist einzigartig und hat seine eigenen Bedürfnisse, Interessen und Persönlichkeit. Indem Eltern sich die Zeit nehmen jedes Kind zu unterstützen und zu ermutigen, können sie sicherstellen, dass keine Bevorzugung entsteht.

Des Weiteren ist es wichtig klare Regeln und Konsequenzen für alle Kinder gleichermaßen festzulegen und durchzusetzen. Dies fördert ein Gefühl der Gerechtigkeit und Fairness innerhalb der Familie. Alle Kinder sollten die gleichen Chancen und Möglichkeiten haben, unabhängig davon, ob sie das Lieblingskind der Eltern sind oder nicht.

Offene Kommunikation ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Eltern sollten mit ihren Kindern über ihre Gefühle sprechen und erklären, dass sie alle gleichermaßen lieben, unabhängig davon, ob sie unterschiedliche Interaktionen haben.

Letztendlich geht es darum, eine Atmosphäre des Respekts, der Wertschätzung und der Liebe zu schaffen, die für jedes Kind in der Familie gilt. Indem Eltern aktiv daran arbeiten keine Pärferenzen zu zeigen und Fairness zu fördern, können sie sicherstellen, dass alle ihre Kinder das Vertrauen und die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, um sich zu gesunden und glücklichen Erwachsenen zu entwickeln.

Umgang mit den emotionalen Auswirkungen von Elternpräferenzen

Ob in der Rolle des Lieblingskindes oder des benachteiligten Geschwisterkindes – es wichtig, die emotionalen Auswirkungen von Elternpräferenzen anzuerkennen und aktiv daran zu arbeiten sie zu bewältigen. Es folgen einige Schritte, die dabei helfen können:

Selbstreflexion: Es gilt die eigenen Gefühle und Erfahrungen zu reflektieren und zu identifizieren, wie die Dynamik in der Familie die eigenen Emotionen beeinflusst hat.

Therapie: Professionelle Unterstützung durch einen Therapeuten kann helfen die Emotionen zu verarbeiten und gesunde Bewältigungsmechanismen zu entwickeln.

Kommunikation: Eine ehrliche Konversation mit den Eltern über Emotionen und Geschehnisse kann dazu beitragen Missverständnisse aufzudecken und Beziehungen zu verbessern.

Selbstwertgefühl stärken: Gezielt am eigenen Selbstvertrauen zu arbeiten sowie Stärken zu identifizieren und sich realistische Ziele zu setzen kann dabei helfen mehr Resilienz und Lebenszufriedenheit zu entwickeln.

Unterstützung suchen: Freunde, andere Familienmitglieder oder Selbsthilfegruppen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, sind gut Anlaufstellen, um über Geschehnisse zu sprechen und Rückhalt zu erfahren.

Zusammengefasst ist es wichtig zu betonen, dass die Begünstigung eines Kindes innerhalb der Familie tiefe emotionale Wunden hinterlassen kann, sowohl beim bevorzugten Kind als auch bei seinen Geschwistern. Trotz der vermeintlichen Vorzüge birgt auch das Label des „Lieblingskindes“ eine Vielzahl von psychischen Herausforderungen und Belastungen. Ein bewusstes Hinterfragen dieser Dynamiken und ein sensibler Umgang mit den individuellen Bedürfnissen jedes Familienmitglieds sind entscheidend, um eine unterstützende und ausgewogene Familienatmosphäre zu schaffen.

Quellenangaben
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  • Reilly, K., Rurka, M., Suitor, J. J., Gilligan, M., Pillemer, K., Mohebbi, L. & Mundell, N. (2021). Prodigal Children: How Reformed Deviants Become Mothers’ Favorite Children in Adulthood.  Journal of Gerontology: Social Sciences 77(7), 1325-1335. https://doi.org/10.1093/geronb/gbab075
  • Shebloski, B., Conger, K. J. & Widaman, K. F. (2005). Reciprocal links among differential parenting, perceived partiality, and self-worth: a three-wave longitudinal study. Journal of Family Psychology, 19(4), 633–642. https://doi.org/10.1037/0893-3200.19.4.633

Kategorien: Depressionen

Vanessa Graßnickel
Chefärztin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Vanessa Graßnickel
Dr. med. Vanessa Graßnickel ist eine anerkannte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach langjähriger Tätigkeit als Oberärztin übernahm sie 2024 die Position als Chefärztin der LIMES Schlossklinik Fürstenhof in Bad Brückenau. Dr. Graßnickel spezialisiert sich auf verhaltenstherapeutisch basierte Behandlungen und Suchtmedizin, fundiert durch ihr Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum und einer umfangreichen fachärztlichen Ausbildung an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Bochum. In ihrer Rolle als Chefärztin verbindet Dr. Graßnickel modernste diagnostische und therapeutische Methoden mit einer empathischen, respektvollen Patientenbetreuung sowie maßgeschneiderten Therapieplänen.

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