Tinnitus – Ohrgeräusche als „innerer Seismograph“

Tinnitus ist kein neuartiges Phänomen, bereits vor 3500 Jahren gab es erste Aufzeichnungen über unerklärliche Ohrgeräusche und auch historische Persönlichkeiten wie Charles Darwin oder Martin Luther litten schon unter ihnen. Doch wie entstehen sie? Lange war dies ein Mysterium, heute ist jedoch klar: Tinnitus kann viele verschiedene Ursachen haben – nicht nur körperliche, sondern auch seelische!

Pfeifen, Klingeln, Rauschen – Diagnose Tinnitus

Wenn jemand sagt, er habe einen Tinnitus, meint das plötzlich auftretende Ohrgeräusche, die keine äußere Quelle haben und in der Person selbst entstehen. Wie sich diese Geräusche ganz konkret anhören, ist sehr unterschiedlich. Viele Betroffene beschreiben sie jedoch als eine Art Klingeln, Summen, Pfeifen oder Rauschen. Meistens sind diese Symptome zunächst unbedenklich und werden erst durch die starke Beeinträchtigung des Betroffenen gefährlich. Vor allem wenn ein Tinnitus in engen Abständen auftritt oder bereits über Jahre hinweg besteht, kann es zu schweren körperlichen und seelischen Erkrankungen kommen. Bei einer Symptomatik bis zu drei Monaten wird noch von einem akuten Tinnitus gesprochen, darüber von einem chronischen Tinnitus. Ganz grundsätzlich wird noch zwischen einem objektiven Tinnitus (bei dem die Geräuschquelle im Körper selbst, wie dem Innenohr, liegt) und dem subjektiven Tinnitus (bei dem keine Schallquelle zugrunde liegt und dieser sich auch nicht mit Untersuchungen feststellen lässt) unterschieden – der subjektive Tinnitus ist dabei die deutlich häufige Variante.

Schweregrade der Erkrankung

Die Tinnitus Erkrankung wird in vier Schweregrade, abhängig von der Beeinträchtigung des Patienten, eingeteilt:

  1. Grad: Die Erkrankung beeinträchtigt den Patienten nicht und wird gut bewältigt.
  2. Grad: Die Erkrankung wird zum großen Teil gut bewältigt, zeigt sich jedoch bei Stille und ist in Stresssituationen störend.
  3. Grad: Die Erkrankung ist eine dauernde Belastung im Alltag und sorgt für psychische und körperliche Probleme wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Erschöpfung oder Hilflosigkeit.
  4. Grad: Die Erkrankung belastet den Patienten so stark, dass er nicht mehr fähig ist seinen Alltag zu bestreiten, seinen Beruf auszuüben und soziale Kontakte zu pflegen. Darüber hinaus leidet er unter psychischen Erkrankungen wie Depressionen der Angststörungen.

Welche körperlichen Auslöser sind bekannt?

Rein auf der körperlichen Ebene kann ein Tinnitus durch folgende Ereignisse ausgelöst werden:

  • Bakterielle Entzündungen
  • Schädel-Hirn-Traumata
  • Verletzungen des Trommelfells
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Knalltraumata (plötzliche Lärmeinwirkung von mehr als 150 Dezibel)
  • Hörstürze
  • Altersbedingte Funktionseinschränkungen vom Innenohr

Neben den möglichen physischen Auslösern ist bei vielen Betroffenen ist die Ursache der Erkrankung jedoch wesentlich alltäglicher – Stress!

Stress durch Tinnitus oder Tinnitus durch Stress?

Diese Frage ist so pauschal nicht zu beantworten! Knapp ein Drittel der Betroffenen berichten, dass sie sich auf einem dauerhaft hohen Stressniveau befinden. Und hier ist das Wort „dauerhaft“ sehr wichtig – denn wer immer unter Spannung steht und vielleicht auch schon unter psychischen Vorerkrankungen leidet, kann die Geräuschkulisse um sich herum irgendwann nicht mehr gut ertragen. Diese Hypothese bekräftigen bereits einige Studien, die zeigen konnten, dass Entspannungsverfahren die Beschwerden bei einem Tinnitus deutlich verbessern können. Auch die Annahme, dass Stress durch einen Tinnitus begünstigt wird hat seine Berechtigung, denn ganze 75% der Betroffenen sprechen von einer enormen emotionalen Belastung durch ihre Symptomatik und besitzen damit ein hohes Risiko für psychische Erkrankungen.

Was ist also die Henne und was das Ei? Genau dazu fehlen noch weitere wissenschaftliche Untersuchungen. Was jedoch klar ist – Stress kann einen schon bestehenden Tinnitus bei fehlenden psychischen Ressourcen verstärken! Ebenfalls sind bei chronischen Tinnituspatienten Psyche und Hören sehr eng verflochten – Gefühle werden fast hörbar. Die Betroffenen nehmen emotionale Erlebnisse mit Hirnbereichen wahr, die mit der Hörbahn interagieren. Was auf biologischer Seite darüber hinaus bekannt ist: Bei Stress wird Cortisol ausgeschüttet, was wiederum die Freisetzung von Glutamat in den Nervenzellen hervorruft und die Sinneszellen im Gehör überstark erregt.

Kurs zusammengefasst ist es ein kontinuierliches sich hochschaukeln von Stress und Tinnitussymptomen, was die Betroffenen in einen ausweglos erscheinenden Teufelskreis bringt.

Wie lässt sich (stressinduzierter) Tinnitus behandeln?

An der Bandbreite der Ursachen wird bereits deutlich, dass eine Behandlung sehr komplex sein kann und eine Heilung ist nicht immer garantiert ist.

Wie bei allen Erkrankungen ist es zunächst sinnvoll einen Facharzt aufzusuchen, in dem Falle einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt, um oben genannte körperliche Krankheitsbilder auszuschließen oder behandeln zu lassen. Einige physische Ursachen lassen sich gezielt verbessern, beispielsweise durch ein Hörgerät bei Altersschwäche oder eine medikamentöse Behandlung bei Veränderungen der Gefäßwände und damit gestörtem Blutfluss.

Wenn physische Ursachen allerdings ausgeschlossen sind, gestaltet sich die Behandlung eines psychisch bedingten oder auch verstärkten Tinnitus wesentlich langwieriger. Grundsätzlich gilt jedoch: Entschleunigen und dem Stress entgegenwirken! Hierbei sind die wichtigsten Faktoren:

  • Regelmäßige Bewegung
  • Ausgewogene Ernährung
  • Genügend Schlaf
  • Ruhephasen einbauen
  • Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung oder Meditation

Es sollte darüber hinaus geschaut werden welche Stressoren im Alltag bestehen. Wird zu viel gearbeitet? Macht der Job unglücklich? Ist die Verantwortung bei einigen Aufgaben zu groß? Wo kann reduziert oder abgegeben werden? Welche Ressourcen sollten gestärkt werden?

Wenn einem selbst alles über den Kopf zu wachsen scheint, ist eine Psychotherapie sinnvoll um stressbegünstigende Gewohnheiten zu erkennen und mit professioneller Unterstützung zu verändern. Je früher desto besser, denn je länger ein Tinnitus besteht, umso länger wird auch der Heilungsprozess andauern!

Quellenangaben
  • Deutscher Ärzteverlag GmbH: https://www.aerzteblatt.de/archiv/4227/Psychosomatische-Aspekte-des-chronischen-komplexen-Tinnitus, Abruf am 17.03.2023.
  • Hesse, Gerhard: Tinnitus. Stuttgart, 2016.
  • Weise, Cornelia: Mit Tinnitus leben lernen. Heidelberg, 2016.

Kategorien: Chronische Schmerzen

Vanessa Graßnickel
Chefärztin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Vanessa Graßnickel
Dr. med. Vanessa Graßnickel ist eine anerkannte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach langjähriger Tätigkeit als Oberärztin übernahm sie 2024 die Position als Chefärztin der LIMES Schlossklinik Fürstenhof in Bad Brückenau. Dr. Graßnickel spezialisiert sich auf verhaltenstherapeutisch basierte Behandlungen und Suchtmedizin, fundiert durch ihr Medizinstudium an der Ruhr-Universität Bochum und einer umfangreichen fachärztlichen Ausbildung an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Bochum. In ihrer Rolle als Chefärztin verbindet Dr. Graßnickel modernste diagnostische und therapeutische Methoden mit einer empathischen, respektvollen Patientenbetreuung sowie maßgeschneiderten Therapieplänen.

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